La luce alpina

Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im Kunsmuseum St.Gallen

Einleitung

Giovanni Segantini (1858–1899) entwarf in seinen Gemälden das Bild eines Daseins in harmonischem Einklang mit der Natur. Gleichsam als malerischer Gegenentwurf zur Realität grossstädtischer Existenz war sein Werk in den Kunstmetropolen Paris, Wien und Berlin des späten 19. Jahrhunderts hoch geschätzt. Segantini zählt zu den Hauptvertretern des europäischen Symbolismus des Fin de Siècle. Gleichzeitig gilt er durch seine herausragende Stellung im italienischen Divisionismo als wichtiger Erneuerer der Malerei. Seine einfachen ländlichen Figuren sind eingebettet in den ewigen Zyklus der Jahreszeiten, von Geburt, Sein und Tod. Segantini gelingt es, die minuziös erfasste Bündner Bergwelt in allegorische Bildvisionen von strahlender Leuchtkraft zu bannen.

Was an Inhalt und Form seines Werks für fünf international tätige Kunstschaffende heute noch oder wieder Bedeutung hat, ist das Thema der Ausstellung La luce alpina, die sich auf zentrale Arbeiten Segantinis konzentriert, die ab 1887 in Savognin und Maloja entstanden.

Spezifische Beiträge von Dove Allouche (*1972), Siegrun Appelt (*1965), Philippe Rahm (*1967), Patrick Rohner (*1959) und Not Vital (*1948) machen die Wahrnehmung des Berges und des Naturerlebnisses aus dem Blickwinkel der Jetztzeit sichtbar und beleuchten damit die Aktualität von Segantinis Schaffen.

Die zentrale Werkgruppe der Otto Fischbacher Giovanni Segantini Stiftung wird erweitert durch Leihgaben aus dem Segantini Museum in St.Moritz und weitere Hauptwerke aus öffentlichen und privaten Sammlungen. Die Ausstellung findet aus Anlass des 200-Jahr-Jubiläums der Firma Christian Fischbacher, St.Gallen, statt und ist eine Hommage an die Otto Fischbacher Giovanni Segantini Stiftung.

Roland Wäspe und Lorenzo Benedetti

Siegrun Appelt

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Wahrnehmung ist nicht denkbar ohne das Bewusstsein des Menschen und die sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, welche sein Zeitgefühl, seine Gedanken und Erinnerungen prägen. Auf dieser umfassenden Basis setzt die künstlerische Arbeit von Siegrun Appelt (*1965 Bludenz) ein.

International bekannt wurde sie durch installative Lichtarbeiten, welche die physiologischen und psychologischen Dimensionen intensivsten Lichtes ausloten. Mit zeitgenössischer Lichttechnologie hat sie LED-Arbeiten geschaffen, denen sie den Titel Abstrakte Formulierungen gab und mit zahlreichen Referenzen an malerische Positionen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts unterlegte. In der innovativen Strahlkraft des abstrakten LED-Panels untersucht sie die Möglichkeiten des Tafelbildes als animierte Sequenz abstrakter Farbverläufe.

Die durch den Konsum zeitgenössischer Medien kodierte Wahrnehmung des Bildes wird dabei zu einem räumlichen Erleben ausgeweitet, das stark geprägt ist von einer Reflexion der Jetztzeit. Mit ihren Untersuchungen zum «Langsamen Licht / Slow Light» hat sie Grundlegendes zur Reflexion der Überfülle heutiger Beleuchtungstechnologie und Lichtverschmutzung beigetragen und Alternativen aufgezeigt.

Dove Allouche

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Technische Recherche und die Verwendung von Licht sind zentrale Elemente in der Arbeit von Dove Allouche (*1972 Paris). Der französische Künstler experimentiert mit neuen Techniken und dokumentiert zugleich die Art und Weise, wie das Bild der Vergangenheit reproduziert wurde. Er schafft damit Werke, die eine veränderte Darstellung der Zeit hervorrufen. Ein besonderes Augenmerk widmet Allouche der Landschaft und namentlich den Bergen, die als zentrales Leitmotiv seine Arbeit durchziehen.

In der Ausstellung zeigt er «Zénith», eine Serie von 8 Röntgenbildern. Entstanden sind sie nach eigenen Zeichnungen, die vom 1931 von Pierre Dalloz verfassten Buch «Haute Montagne» inspiriert sind. Röntgenbilder minimieren die Graustufen, indem sie durch die kurzwellige Strahlung die Abbildung des Gegenstands verdichten und konzentrieren. Auf diese Weise sucht der Künstler eine Synthese zwischen der Intensität des Lichts und der Kraft der Materie. Unter dem Titel «Sunflower» zeigt Allouche Arbeiten aus dem Dunkeln. Er verteilt Silbersalze auf einem Blatt Papier und schafft damit eine eingefügte lichtempfindliche Struktur zwischen Materie und einstrahlendem Licht: «Um diese abstrakten Bilder zu schaffen, tauchte ich in die Dunkelheit, wie der Urmensch in seiner Höhle, um eine Farbe aus Silber und Zinn über lichtempfindliches Papier fliessen zu lassen. Ich nahm dem Fotopapier so seine Reaktionsfähigkeit und bedeckte es mit einer Malereischicht, die selbst wieder reflektiert.»

Giovanni Segantini

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Der Tote Held [1]

Segantini nimmt das Thema des toten Helden in einer Zeichnung, die um 1887 entstanden ist, nochmals auf. Dieses Vorgehen ist bezeichnend für den Künstler, der häufig Zeichnungen nach bestehenden Werken realisiert hat. Neben den detailliert ausgeführten Nachzeichnungen, vielfach in mehreren Versionen, gibt es bei ihm indessen nur wenige skizzenhafte Entwurfs­zeichnungen, etwa für das Alpentriptychon oder späte symbolistische Motive. Seinem Kunsthändler Vittore Grubicy schreibt er in einem Brief vom 18. Dezember 1889: «Ich habe niemals Skizzen gemacht, denn wenn ich eine Skizze machen würde, dann würde ich das Bild nicht mehr machen. Weitaus die meisten Künstler, die schöne Skizzen hergestellt haben, haben nur selten noch ein Bild gemalt, das der Skizze gleichkam, oder sie haben das Bild überhaupt nicht mehr gemalt, weil sie in jener schon all ihre zum Werke nötige geistige Kraft verpufft haben. Ich will, dass der Gedanke sich jungfräulich im Gehirn erhalte.» Der Augenblick der Wahrnehmung soll unvermittelt umgesetzt werden. Diese Haltung verbindet Segantini mit den französischen Impressionisten. Seine Zeichnungen entstanden, wie wir aus Briefen wissen, im Winterhalbjahr nach Fotografien oder mittels Übertragung durch Pausen auf Seidenpapier. Ausgearbeitete Zeichnungen nach bekannten Gemälden waren gefragt und gingen häufig an seinen Kunsthändler Grubicy in Mailand.

Das Motiv des toten Helden wird in der Kopfpartie der Zeichnung mit einem goldenen Hintergrund hinterlegt, wie er für die Ikonenmalerei und die frühe westliche Sakralmalerei prägend war. Das Auratische im realen wie im übertragenen Sinn ist auch bei Segantini gemeint, wenn er sowohl den liegenden Helden wie sein eigenes Selbstbildnis vor einen Goldgrund setzt.

Der Tote Held [2]

Das extrem dunkle Gemälde ist nur schwer lesbar. Was man zuerst entdeckt, ist ein nackter männlicher Körper mit angelegten Armen und parallelen Beinen. Die Augen sind geschlossen, der Mund ist leicht geöffnet. Offensichtlich die Darstellung eines Verstorbenen, und so lautet denn auch der überlieferte Titel des Gemäldes L’eroe morto, der tote Held. Im oberen Bereich rechts scheinen Gegenstände aufgehängt zu sein, und nur allmählich identifiziert man einen metallenen Brustpanzer, ein Schwert und eine Schwertscheide. In der linken Bildhälfte ist der Lichtpunkt einer Fackel markiert, welche die ganze Szene in ein flackerndes Licht hüllt. Das übrige Bild scheint aus einem undefinierbaren braunen Grund zu bestehen, der auch den Betrachtenden in die tiefste Dunkelheit des Todes mit einbezieht. Genau dieser Moment ist auch intendiert: der reale und ohne Erlösungshoffnung verbliebene Tod.

Das Gemälde ist unten rechts auffällig gross in schwarzer Schrift bezeichnet: «G. Segantini all’ amico P. Mariani». Der gleichaltrige Maler Pompeo Mariani (1857–1927) hat Segantini offenbar an den Abendkursen in der Accademia di Belle Arti im Palazzo di Brera kennengelernt und sich mit ihm befreundet.

[R1] Andrea Mantegna (1431–1506) Beweinung Christi
1470–74, Pinacoteca di Brera

[R1] Ikonographisch bezieht sich das Gemälde auf die berühmte Beweinung Christi von Andrea Mantegna (1431–1506), die in der Pinacoteca di Brera in Mailand aufbewahrt wird und von der wir annehmen können, dass sie Segantini im Original gekannt hat. Mantegnas Schlüsselwerk verdeutlicht die Beherrschung der Perspektive und zeigt in seiner Ausdruckskraft und direkten Anteilnahme des Betrachtenden eines der Kernanliegen der italienischen Frührenaissance.

Rückkehr zum Schafstall

Die Zeichnung in Kohle und weisser Kreide auf Papier gibt das Motiv der «Rückkehr zum Schafstall» in einer komprimierten und sehr bewegt wirkenden Form wieder: eingebunden in eine dynamische Spiralbewegung, an deren einem Ende das Licht des Stalles leuchtet. Die Hell-Dunkel-Kontraste steigern sich, je näher die Tiere dem Licht kommen. Sie sind in expressiven Umrissen gezeichnet und mit differenziertem Ausdruck versehen. Ein abgestorbener Baum in der linken Bildhälfte zeigt eine spiralige Gegenbewegung.

Segantini verbindet das Motiv der Rückkehr zum Stall mit dem Symbol des abgestorbenen Baums, wie es in seinen späten symbolistischen Gemälden geradezu zu einem Leitthema wird, und macht damit die Rückkehr zum Stall zum symbolischen Akt.

L’angelo della vita

[R2] Le cattive madri Die bösen Mütter
1894, Öl auf Leinwand, 120 × 225 cm, Österreichische Galerie, Wien

[R1] «L’angelo della vita» ist eine späte, entsakralisierte Version einer Maria mit Christuskind. Der im Winter abgestorben wirkende Baum, der im Frühjahr zu neuem Leben erwachen wird, erscheint in der Symbolik des Weitergebens des Lebens häufig im Spätwerk von Segantini. Den Prototyp hatte er schon 1880–83 in einer Landschaft mit einer weiblichen Figur in einem Baum geschaffen.

Die Einheit von Mutter und Kind wird durch das lange Haar der Frau, das beide umfängt, noch intensiviert. Im knorrigen Geäst eines ­blattlosen Baumes sitzend, scheinen sie über der Landschaft, von hellem Licht umfangen, zu schweben, den Horizont weit hinter sich lassend. Segantini hat dieses Thema 1894 in seinem späten Hauptwerk Le cattive madri, Die bösen Mütter, in einer komplexen Version aufgenommen. Sie bezieht sich auf Illicas Nirwana-Dichtung und setzt die klirrende Kälte eines Engadiner Winterabends parallel zu schwebenden Frauengestalten zwischen der Eiswüste des Fegefeuers und der Erlösung im «Nirwana» des goldenen Abendlichts.

Selbstbildnis

Die drei Selbstportraits von Giovanni Segantini aus den Jahren 1890 bis 1893 sind erstmals überhaupt zusammen zu sehen und ergeben einen präzisen Hinweis zur Entwicklung und Kanonisierung seines Selbstbildes. Der Künstler verwendete Kohle, Bleistift und den nach seinem Erfinder Nicolas-Jacques Conté benannten Stift (Patent 1795). Gezeichnet wird mit einer weichen Graphitmischung, die in ­einen zylindrischen Metallstift gepresst ist.

Ist das erste Selbstbildnis noch offen im Blick, leicht nach rechts ­gewendet und von einem breiten Lichtreflex im Haar umfangen, wird die Darstellung zunehmend streng frontal und symmetrisch. Der direkte, durchdringende Blick nähert sich bewusst einem sakralen Bildtypus, eine Wirkung, die durch den goldfarbigen Hintergrund noch verstärkt wird. Die Parallelität zur bärtigen Physiognomie ­Christi fokussiert auf die visionäre Kraft des Künstlers, wie sie seit Dürers frontalem Selbstbildnis mit wallendem Haar von 1500 ­möglich wurde. Die Annahme der hieratischen Pose kann als Imitatio Christi gelten und einen Hinweis geben auf das Selbstbild des ­Künstlers, der sich als Nachschöpfer Gottes (Divino artista) sieht.

Patrick Rohner

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Für seine Malerei verwendet Patrick Rohner (*1959 Rothenthurm SZ) Ölfarben von dichter Materialität, die er selbst aus Pigmenten und Bindemitteln mischt. Es entstehen daraus geschichtete Werke, die in einem langsamen und akribisch dokumentierten Vorgehen ihre finale Form finden. Dass sich dadurch Analogien zu Naturprozessen ergeben und Pressungen, Überlagerungen und Verschiebungen eine Malerei nahe der Substanz bewirken, ist Programm. Die Autonomie seiner Malerei liegt in ihrer radikalen Prozessualität der Entstehung.

Seit 1991 lebt Patrick Rohner mit seiner Familie in Rüti im Glarnerland, an einem abgelegenen Ort, wo an beiden Talflanken senkrechte Felswände den Blick nur noch nach oben leiten. Dieses tiefe Eintauchen in die alpine Landschaft ist ein Aspekt, der ihn ebenso mit Segantini verbindet wie die autonome Realität der Malerei: Ein langsamer Prozess liegt auch Rohners Wasserarbeiten zugrunde, die durch ein über Monate andauerndes Verdunsten von Farbbädern im Atelier entstehen und deren Niederschläge sich auf festen Büttenpapieren sedimentieren. Die im hochalpinen Raum entstandenen Steinzeichnungen sind die Abbildung der Verwitterungsspuren von Felsbrocken, die auf festen geschöpften Papieren ihre jahreszeitlichen Spuren hinterlassen. In dieser unmittelbaren Abbildung der alpinen Landschaft ist Patrick Rohner ebenso zeitgenössisch, wie er sich in die Tradition der Malerei einbindet.

Giovanni Segantini

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Giovanni Segantinis berühmtestes Gemälde, «Ave Maria a trasbordo», 1886, ist von monumentaler Wirkung. Die Andacht der Demütigen im Boot, die als Sinnbild einer noch intakten Einheit von Mensch und ­Natur gelesen werden kann, verbindet sich zugleich auch mit der Ikonographie der Heiligen Familie mit Maria, Josef und dem Christuskind.

Die Szenerie wird umstrahlt vom Licht der untergehenden Sonne. Die Welt ist zu einem schmalen Horizontband zusammengeschmolzen, von der sich einzig die Silhouette der Kirche abhebt. Von deren Turm ruft der Klang der Glocken die Gläubigen zur Andacht. In den radi­alen Strahlen der untergehenden Sonne, die Segantini in diesem Bild zum ersten Mal in divisionistischem Nebeneinander reiner Farbe malt, wird die Ausbreitung des Glockentons mit der Aussendung des lebensspendenden Lichts gleichgesetzt.

Segantini malte eine erste Version des Motivs bereits 1882 in Pusiano. In Savognin entstand dann 1886 die divisionistische Fassung, die ihn weltberühmt machte. Anstelle der gewohnten Wiedergabe des Lichts durch eine Skala von auf der Palette gemischten Tonwerten, verwendet er eine neue Technik paralleler Strichlagen reiner Farbe, die sich erst im Auge des Betrachtenden mischen. Es gelingt ihm ­damit, die Helligkeit und Leuchtkraft des Gemäldes zu steigern. Die Strahlkraft des Bildes ergibt sich nicht mehr aus kontrastierenden Schatten, sondern es strahlt durch die Farbe selbst. Das Gemälde ­gehört zu den am häufigsten reproduzierten Werken des späten 19. Jahrhunderts.

Allo sciogliersi delle nevi

Trinkwasser ist die Voraussetzung für das Überleben von Mensch und Tier, so dass dem Brunnen immer symbolische Bedeutung zukommt. Der Bauer mit seiner hellfarbigen Kuh an der Tränke ist kompositorisch der Rückenfigur in «A messa prima» sehr nahe. Die wartende Haltung, bis die vor dem Schlitten eingespannte Kuh getrunken hat, lässt die Zeit stillstehen.

Das Gemenge aus Erde, Grasstoppeln und Schnee im Vordergrund, das als Malerei fast mimetisch nachgebildet wird, bezeichnet präzise ­sowohl die Tageszeit, nachdem schon viele Tiere am Brunnen waren, wie die Jahreszeit der Schneeschmelze. Es ist ein neuer Brunnen mit gusseisernem Brunnenstock und einem Trog aus Beton, wie sie in der Zeit als moderne Infrastruktur in den Bergdörfern Graubündens Einzug hielten. Segantini malt also genau das Motiv, das er aktuell in Savognin vorfindet.

Während die Ebene noch mit Schnee bedeckt ist, sind die aufsteigenden Flanken gegen das Dorf hin schon aper. Zwei Perspektiven über­lagern sich in diesem Gemälde unmerklich: ein Blick von oben auf den Bauern mit seiner Kuh an der Tränke und eine Sicht in die Weite zum Dorf, wo schon die ersten Lichter angezündet sind. Es ist wiederum eine Abendszenerie, die jedoch ohne Horizont und Wolken ­auskommt und sich ganz aus dem tiefstehenden Abendlicht erschliesst. Das an eine Mauer im Mittelgrund lehnende Brett gibt den Sonnenstand an, während die Figur des Bauern so nahe am Bildrand steht, dass der zugehörige Schatten nicht mehr abgebildet wird. Was man hingegen sieht, ist das Spiegelbild der Beine in der wieder überfrorenen Wasserlache.

La lavandaia

Zwischen November 1886 und März 1887 hielt sich Segantinis Förderer und Kunsthändler Vittore Grubicy in Savognin auf, wo er den Künstler über die Neuerungen der divisionistischen Malerei informierte. Das Gemälde «La lavandaia» aus dem Bestand der Sturzeneggerschen ­Gemäldesammlung, die der Stickereifabrikant Eduard Sturzenegger (1854–1932) 1926 der Stadt St.Gallen schenkte, dürfte kurze Zeit ­danach entstanden sein.

Während die expressiven Wolken in wechselndem Licht noch tonal gemalt sind mit auf der Palette gemischten Tönen, werden die Grüntöne der Landschaft und der braune Vordergrund mit dem Brunnen im Schatten bereits in neuer Technik mit parallelen Lagen der Lokalfarben Grün und Braun sowie hellgelben und weissen Strichlagen realisiert. Die Grenze zwischen verschattetem Vordergrund und in hellem Licht erstrahlender Landschaft liegt genau dort, wo die Bäuerin die Wäsche eintaucht. Das helle Zeigelicht legt den Fokus auf die Tätigkeit, während die Hände selbst malerisch sehr frei und ohne Einzelheiten dargestellt sind. Das Wasser sprudelt ununterbrochen in den Brunnen, wirft sein Reflexlicht auf die helle Schürze der Wäscherin und suggeriert im Bild auch ein akustisches Moment.

Der Brunnen, als Quell des Lebens symbolisch verstanden, kommt bei Segantini vielfach vor, hier zuerst in einer scheinbar alltäglichen Funktion, um Wäsche zu waschen. Gezeigt ist allerdings nicht die ­übliche Frauengruppe am Waschtag am Brunnen, sondern eine ­einzelne Figur, die mit den verdorrten Ästen im Mittelgrund und dem schräggestellten Eckpfosten des Brunnens auch zum Symbol der Vergänglichkeit und der Mühsal des bäuerlichen Alltags wird.

Costume grigionese

Das Gemälde «Costume grigionese» stellt eine für Segantini ungewöhnliche Nahaufnahme einer Bündnerin in Sonntagstracht dar und ­konzentriert sich in einem fast fotografischen Blick ganz auf den Gestus des Trinkens. Die dargestellte Frau ist gänzlich umfangen von einer lichtdurchfluteten Wiese, ohne Angabe eines Horizonts. Als Modell diente wiederum Baba, die Magd der Familie Segantini, die vielfach in den Savogniner Gemälden erscheint.

Das Gesicht der Bäuerin ist leicht gerötet. Ihre Haare hat sie vom streng geraden Mittelscheitel aus nach hinten gekämmt und dort zu einem Chignon zusammengebunden. Die Augenlieder scheinen fast geschlossen. Sie löscht ihren Durst, indem sie aus einer Brunnenrinne das Wasser mit der rechten Hand auffängt und daraus trinkt. Es ist der einfachste und natürlichste Gestus. Das Rinnsal fliesst durch die Hand der Figur hindurch. Das lebensspendende Wasser durchdringt quasi die physische Existenz der Frau. Die erotischen Aspekte der Szene wie die zahlreichen Allusionen, welche die thematische Verbindung von Frau und Wasser enthält, müssen vor dem Hintergrund der Malerei des Fin de Siècle sicherlich nicht weiter ausgeführt ­werden. Segantini intensiviert das Thema des rinnenden Wassers durch die drei Rinnsale, in denen sich das Licht ebenso fängt wie in den ­Falten der weissen Bluse. Die Wiedergabe des Reflexlichts auf dem halbbeschatteten Gesicht der Trinkenden vollendet ein fast impres­sionistisches Lichtspiel. Der intimen Nähe des Blicks entspricht der
Moment der Labung.

Mehr zufällig entdeckt man im Hintergrund die im hohen Gras­ ­versteckten drei Enten, die über der linken Schulter der Figur die ­bräunlichen Linien der Wasserrinnen nochmals aufnehmen.

Mezzogiorno sulle alpi

Das Gemälde «Mezzogiorno sulle alpi» (Mittag in den Alpen) entstand 1891 in Savognin und gehört zu Segantinis eindrücklichsten Werken. Das optische Zusammenrücken der hochalpinen Landschaft im gleissend-klaren Licht des Mittags ist in divisionistischer Malerei meisterlich nachgeformt.

Eine Alpweide im hellen Grün der neu spriessenden Vegetation ­erstreckt sich weit bis zur verschneiten Bergkette, über der sich ein tiefblauer Himmel wölbt. Parallele dunkelblaue und hellblaue ­Strichlagen, durchsetzt von kurzen weissen Pinselzügen und zinnoberroten Punkten, verleihen ihm das intensive Kolorit, und erst aus ­Distanz mischen sich die feinen Pinselstriche zum eigentlichen Farb­eindruck. Die Hirtin im Vordergrund – es ist Barbara Uffer (Baba), die Magd der Familie Segantini – blickt mit zusammengekniffenen Augen gegen die Sonne, während sich drei Schafe in Gegenrichtung aus dem Bild bewegen. Geschützt von einem breitkrempigen Strohhut, beschattet sie mit der rechten Hand die Augen. Mit der Linken hält sie vor sich einen leicht gebogenen Stock, der die Konturlinie ihres dunkelblauen Kleids bis zum Boden fortsetzt.

Die Figur wirkt geschlossen, fast statuarisch in der Konzentration auf das Schauen in die Ferne. In gewisser Weise nimmt sie damit die ­Position der Betrachtenden vor dem Gemälde vorweg: auch sie blicken in eine strahlend helle Frühlingslandschaft, allerdings eine gemalte. Das Sehen selbst wird zum eigentlichen Inhalt des Bildes. Das Sehen selbst wird zum eigentlichen ­Inhalt des Bildes.

Ritorno dal bosco

Die eisige Kälte des Wintertags scheint mit Händen greifbar im ­Gemälde «Ritorno dal bosco», in dem auch Segantinis Hinwendung zum Symbolismus besonders deutlich wird. Strichlagen von Weiss, Grau und hellem Gelb lassen eine vibrierende Farbfläche entstehen, welche die klirrende Kälte bei einbrechender Dämmerung in kaum je erreichter Eindringlichkeit zu vermitteln vermag.

Auf einer strengen Diagonalen bewegt sich die einsame Rückenfigur einer Frau, die einen mit Holzstämmen und Ästen beladenen Schlitten in Richtung des Dorfs Savognin zieht. Die beleuchteten Fenster im Dorf geben das Wärme verheissende Ziel der Spuren im Schnee an. Die Parallelsetzung von Naturstimmung und Innenwelt einer symbolischen Figur, die unschwer mit zeitgenössischen Todes-Chiffren des späten 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden kann, ist eines der ergreifendsten Momente des Gemäldes.

Sul balcone

Barbara Uffer (Baba), die Magd der Familie Segantini, ist ganzfigurig auf einem gedeckten Balkon dargestellt, wie er an vielen Engadiner Häusern, gegen Süden orientiert, am Heustall angebracht ist. Der rechte Arm ist in die Hüfte gestemmt, ihr Blick ist abgewendet und konzentriert sich ganz auf das Betrachten einer roten Nelke, die sie in der linken Hand hält.

Das Dorf Savognin mit dem prägnanten Kirchturm ist ganz nahe ­gerückt, so dass sich die Firste der Hausdächer auf gleicher Höhe wie das Kopftuch der Dargestellten befinden. Ein heller Himmel spannt sich über der Szenerie, der sein Licht auch auf das Geländer des ­Balkons wirft und es silbrig schimmern lässt. Ein Lichtschein blitzt zwischen den lose gefügten Brettern des Balkonbodens durch. Die ­Figur scheint dadurch auch ein wenig abgehoben, jedenfalls in ihre eigene innere Welt vertieft.

Es ist den Betrachtenden des Bildes überlassen, den Gedanken der ­Sinnierenden nachzuspüren. Die rote Blume als Symbol der Liebe scheint in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Vacca bruna all’abbeveratoio

«Vacca bruna all’abbeveratoio»: Der Titel beschreibt bereits den ganzen Inhalt des Gemäldes, das eine braune Kuh am Brunnen auf einer ­hohen Alpweide zeigt, während im Hintergrund weitere Tiere in ­ähnlicher Profilstellung sichtbar sind.

Die beiden Hinterläufe der Kuh sind auffällig parallel gesetzt, was ihrem Körper etwas Statuarisches und Unverrückbares zu geben scheint. Das Tier wird gleichsam zum Symbol der Landschaft, die ­seinen Lebensraum darstellt, und verschmilzt malerisch auch vollkommen mit ihr. Das kontrastreiche Licht von rechts wirft ­einen modulierenden Schatten auf den Tierkörper und den aus einem Baumstamm geschlagenen Brunnentrog.

Die Wolkenbänder legen parallel zur Horizontlinie einen Schatten auf die alpine Landschaft, der das Gemälde in der Mitte zu teilen scheint. Vom Vordergrund bis zum Horizont ist das Bild mit dem ­gleichen divisionistischen Pinselduktus sehr plastisch gemalt, so dass Nähe und Ferne zusammenfallen.

Vacche aggiogate

Die trinkende Bäuerin am Brunnen mit den beiden vor den Wagen ­gespannten Kühen an der Tränke verbindet zwei bekannte Motive ­Segantinis und setzt sie vor ein spektakuläres Frühlingspanorama mit weitem Horizont. Das tiefe Abendlicht beleuchtet die Szenerie und ergibt einen prägnanten Schatten des leeren vierrädrigen Wagens und eine fast überreale Präsenz des nassen Grases im Vordergrund.

Mensch wie Tier haben sich am Brunnen gelabt, Wasser trieft vom Maul der vorderen weiss-schwarz gescheckten Kuh, während die zweite, braune Kuh nur durch den parallel verlaufenden Rücken sich zeigt. Unter dem Joch, so der zweite Titel des Werks, bezeichnet die Situation genau und gibt einen Hinweis, dass die beiden eingespannten Tiere sich nur synchron bewegen können, auch an der Tränke. Bereits diese Feststellung macht die vielfältige symbolische Bedeutung des Dar­gestellten sichtbar, die den Brunnen als Urquelle des Lebens versteht.

An der Weltausstellung in Paris 1889 wird das Gemälde in der itali­e­nischen Abteilung gezeigt und mit einer Goldmedaille ausgezeichnet.

Il bacio alla croce

Segantini hat dieses Bild noch in seiner Zeit in der Brianza geschaffen, in der viele Gemälde entstanden, die der frommen bäuerlichen ­Bevölkerung gewidmet sind. In «Il bacio alla croce» ist der Einfluss des französischen Realisten Jean-François Millet (1814–1875), in Bezug auf Themenwahl, Komposition und Farbgebung, noch gut erkennbar.

Mutter und Kind sind zentral und dominieren die Landschaft mit einem weiten dunkelgrauen Abendhimmel. Die Mutter hebt ihr Kind zum Wegkreuz hinauf, damit es dieses küssen kann. Das katholische ­Ritual und der greifbare Gegenstand des Holzkreuzes machen ­Christus für das Kind anschaulich erfahrbar. Die Betrachtenden des Bildes wiederholen diesen Ritus intuitiv. Die zärtliche Liebe zwischen Mutter und Kind ist vielfach Thema bei Segantini, das interpre­tatorisch mit dem frühen Verlust der eigenen Mutter in Verbindung gebracht ­wurde. Die stehende Frau ist eng mit den im abendlichen Licht ­ockergelb scheinenden Rücken der Schafe verbunden, so dass sich eine Einheit von Tier, Mensch und göttlicher Schöpfung ergibt.

A messa prima

Das präzise Erfassen der atmosphärischen Stimmung bei Tagesanbruch im Himmel, der in gewölbter Konturlinie das Bild begrenzt, wird ­verknüpft mit einer ins Extreme gedehnten Perspektive einer Treppe, die ein Priester in gebückter Haltung erklimmt. Der blasse Mond ­begleitet den Aufstieg, der zum Symbol wird für die Mühsal des ­gelebten Lebens, so wie die Treppe mit ihren Schrunden und Fehlstellen dieses zu illustrieren scheint. Die Figur ist, wie so häufig bei ­Segantini, im verlorenen Profil gezeigt, so dass kein Gesicht erkennbar wird. Nur die grossen fleischigen Hände geben einen Hinweis auf ­einen tatkräftigen ländlichen Geistlichen.

A messa prima vor der Übermalung

Unter dem jetzigen Bild verborgen ist eine erste Version, die wir aus einer historischen Aufnahme kennen. Drei hämisch grinsende ­Mönche sind hier am oberen Rand der Treppe dargestellt, während eine schwangere junge Frau, begleitet von einem Hund, die Treppe hinunterschreitet. Ist die erste Fassung des Bildes also deutlich ­anti­klerikal gefärbt, verschiebt sich die Problematik in der jetzt ­vorliegenden Version ganz in die Innenwelt der dargestellten Person und damit in die Gedanken der Betrachterinnen und Betrachter.

Ritorno all’ovile

Die Rückkehr der Herde in der Dämmerung hat Segantini bereits in seiner Zeit in der Brianza mehrfach gemalt. In «Ritorno all’ovile», das 1888 in Savognin entstand, formuliert er das Thema in seiner kom­plexesten Form, indem er die Schafherde in zwei Gruppen in den Stall ziehen lässt, die dadurch den gesamten Bildraum durchquert.

Eine zeitliche wie räumliche Abfolge erschliesst das Gemälde. Der Hirte an der Spitze des Zuges scheint bereits weit entfernt und steht im Türrahmen des hell erleuchteten Stalls: die zentrale helle Stelle im Bild. Die Hirtin vor der Umzäunung mit ihrer Gruppe von Tieren ist in ­gebückter Haltung mit hinter dem Rücken verschränkten Armen dargestellt. Die Figur entspricht in ihrer Gestalt weitgehend dem ­Geistlichen in «A messa prima». Der graugelbe Himmel ist noch hell ­erleuchtet, aber auf ein schmales Band reduziert, das nur in den ­beiden oberen Ecken des Bildes erscheint. Die Szenerie selbst ist in ein spätes Dämmerlicht getaucht, wobei jede Sekunde der Moment erreicht sein könnte, an dem das Farbsehen aussetzt. Das Verschwinden des natürlichen Lichts und der Wechsel zum Schein der Laterne ­bestimmen den Augenblick des Bildes.

La raccolta del fieno

Das grosse Gemälde «La raccolta del fieno» entstand noch in Savognin und zeigt in der Anlage bereits das grosszügige Panorama, wie es ­Segantini für das Alpentriptychon später wählen wird.

Der Vordergrund des Bildes ist von aussergewöhnlicher Plastizität, indem jeder Stein und jeder Grashalm fast skulptural herausgearbeitet wird. Die gebückte Haltung der Bäuerin, die mit dem Rechen ein ­letztes Heubüschel zusammenkehrt, ist parallel zur Horizontlinie der Berge gesetzt, und der Stecken des Rechens ragt steil vor dem ­hellen Himmel auf. Im Mittelgrund werden die gefüllten Heublachen auf den Wagen geladen. Der Mann mit dem geschulterten Heuballen, die vier Recherinnen, der Heuwagen und weitere Figuren auf dem Weg bilden ebenfalls eine Linie parallel zum Horizont.

Der Fokus der Szenerie liegt nicht auf der bereits gewonnenen Ernte, sondern auf dem letzten Büschel Heu. Die Kargheit des ländlichen Lebens und das Ringen um jeden kleinen Ertrag ist die Basis für die symbolistische Weiterentwicklung des Bildes. Segantini fügt ihm, in der Zeit in Maloja, dann jene dunklen, zeichenhaften Gewitterwolken hinzu, die bleiern über der Landschaft lasten, die weisse Wolke ­überziehen und an ein kurz bevorstehendes Gewitter gemahnen. Es ist diese angespannte Atmosphäre, die das Gemälde zusammenhält, so wie es sich kompositorisch durch die gerundete Oberkante schliesst.

Il reddito del pastore

Im selben Jahr entstanden wie die zweite Fassung des «Ave Maria a trasbordo» ist «Il reddito del pastore», ein Gemälde, in dem Segantini die Neuerungen divisionistischer Malerei entwickelt und verfeinert.

Ein tiefes Abendlicht beleuchtet die Szenerie der Schafschur, und die über den ganzen Vordergrund verteilte Wolle wird zum Lichtfänger. Segantini erreicht diese Wirkung mit sehr freien Farbkringeln von Gelb, Grau und Weiss, während im Hintergrund, auf der Holzwand der Scheune, längliche Pinselstriche die Maserung des angewitterten Holzes nachvollziehen.

Der Schäfer ist zentral in einem Hof platziert, der keinen Ausblick gewährt, und beugt sich über das bereits geschorene Tier, das im ­hellen Licht erstrahlt. Er ist ganz auf die sorgfältige Arbeit kon­­zentriert, während das Schaf die Schur offenbar geduldig über sich ­ergehen lässt. Sein parallel zur Bilddiagonalen langgestreckter, ­entspannter Körper vermittelt dies jedenfalls. Durch den engen ­Kontakt scheinen die beiden Wesen zu verschmelzen, und genau ­dieser Moment einer innigen Nähe und Abhängigkeit ist auch gemeint.

Leben

1858

Am 15. Januar wird Giovanni Battista Emanuele Maria Segatini, später von ihm selbst zu Segantini umbenannt, in der trientinischen Kleinstadt Arco am nördlichen Ende des Gardasees als österreichischer Staatsbürger geboren. Seine Eltern sind Agostino Segatini und ­Margherita de Girardi.

1861

Im März verlässt Agostino Segatini seine Familie und übersiedelt nach Mailand, wo sich bereits seine beiden Kinder aus erster Ehe, Irene und Napoleone, niedergelassen haben. Giovanni bleibt bei seiner Mutter, die seit seiner Geburt krank und unterstützungs­bedürftig ist.

1864

Der Vater kehrt im August ins Trient zurück. Während sechs Monaten lebt Giovanni erneut mit seinen Eltern zusammen.

1865

Am 5. März stirbt Margherita de Girardi im Alter von 37 Jahren und hinterlässt den siebenjährigen Giovanni als Halbwaisen. Er erinnert sich später in seiner Autobiographie an diese prägende Zeit, als eine Sehnsucht nach der Rückkehr zum Ursprung des Lebens und zur ­Mutter. Im April fährt Agostino erneut nach Mailand, wo er Giovanni seiner Tochter Irene anvertraut, die wegen ihrer Arbeit jedoch wenig Zeit für das Kind aufbringen kann.

1866

Agostino Segatini stirbt am 20. Februar im Spital von Rovereto im ­Trient. Giovanni durchlebt in der Folge eine unruhige und schwierige Jugend.

1870

Giovanni wird im Dezember in die Erziehungsanstalt für Minder­jährige, das Riformatorio Marchiondi in Mailand, eingeliefert. ­Während der drei Jahre, die er dort verbringt, erhält er eine ­rudimentäre Erziehung, lernt aber weder lesen noch schreiben. Er ­erlernt den Beruf eines Schuhmachers. Der katholische ­Anstaltsgeistliche entdeckt das zeichnerische Talent Giovannis und ­fördert ihn.

1874–79

In Mailand wohnt Giovanni wieder bei seiner Halbschwester Irene. Seit 1875 ist er beim Dekorationsmaler Luigi Tettamanzi tätig. Er ­besucht in dieser Zeit Kurse für Malerei und Ornamentik an der ­Accademia di Belle Arti im Palazzo di Brera. Er befreundet sich mit dem Möbelentwerfer Carlo Bugatti (1855–1940) und dem Maler Emilio Longoni (1859–1932), mit dem er lange freundschaftlich ­verbunden bleibt. Zudem pflegt er Kontakte zur antibürgerlichen Künstlerbewegung der Scapigliatura (ital. scapigliare: die Haare ­zerzausen), vorwiegend lombardische Künstler und Schriftsteller in Mailand, welche sich gegen die Vorherrschaft der Religion und die Rhetorik des Risorgimento wenden.

1879

Segantini lernt den Kritiker und Kunsthändler Vittore Grubicy de Dragon (1851–1920) kennen, der ihn zukünftig betreut, berät und – später zusammen mit seinem Bruder Alberto Grubicy – finanziell ­unterstützt. Er vermittelt dem Künstler auch die optische Theorie des Divisionismo.

1880

Nach dem Verlassen der Kunstakademie bezieht Segantini in der Via San Marco 26 sein erstes Atelier, das er als Mailänder Domizil ­behält. Er lernt die siebzehnjährige Luigia Bugatti (1863–1938), ­genannt Bice, kennen, die Schwester des Studienfreundes Carlo, welche seine Lebensgefährtin wird. Carlo Bugatti erregt mit ­seinen extravaganten Möbeln eines von türkischen und japanischen Motiven beeinflussten Jugendstils grosses Aufsehen, zuerst in ­Mailand, später in Paris. Seine beiden Söhne, Rembrandt (1885–1916) und Ettore (1881–1947), werden ebenfalls bekannte Persön­lichkeiten – der erste durch seine grossartigen Tierskulpturen, der andere als der geniale Konstrukteur der nach ihm benannten «Bugatti»-Automobile.

1881

Segantini lässt sich mit Bice in Pusiano in der Brianza nieder, wo sie eine Zeit lang auch mit Emilio Longoni im selben Haus leben und ­arbeiten. Longoni, Gaetano Previati (1852–1920) und Segantini sind die bedeutendsten Maler, die nach 1886 den italienischen ­Divisionismus entwickeln.

1886

Bice Bugatti liest dem an «L’aratura» (Das Pflügen) malenden Segantini vor, Savognin 1888/89.

1886

Im Februar kehrt Segantini mit seiner Familie nach Mailand zurück, wo er für das lombardische Grossbürgertum Auftragsarbeiten ausführt. Im August lässt er sich nach einer langen, zu Fuss unternommenen ­Erkundungsreise, die ihren Verlauf über die Orte Como, Livigno, Posch­­i­avo, Pontresina und Silvaplana nimmt, schliesslich mit seiner Familie in Savognin nieder, einem auf 1200 m ü. M. gelegenen Dorf im Oberhalbstein. Vom November bis zum März 1887 hält sich Grubicy in ­Savognin auf, wo er Segantini über die Neuerungen in der Kunst ­unter­richtet. Segantini malt das Gemälde «Ave Maria a trasbordo» (Ave ­Maria bei der Überfahrt) in der Technik des Divisio­nismus neu.

1889

Durch Vermittlung Vittore Grubicys und Giovanni Boldinis (1842– 1931) werden die Werke Segantinis in der italienischen Abteilung auf der Weltausstellung in Paris gezeigt. Das Bild «Vacche aggiogate» (Kühe an der Tränke) wird mit der Goldmedaille ausgezeichnet.

1892

Das Gemälde «Mezzogiorno sulle Alpi» (Mittag in den Alpen) erhält in München die Goldmedaille.

1894

Im Juni zeigen die «Esposizioni riunite al Castello Sforzesco» in Mailand im Rahmen einer Retrospektive 90 Werke Segantinis. Im August muss Segantini Savognin verlassen, weil er die kantonalen Steuern nicht bezahlt hat und von den Gläubigern verfolgt wird. Er beschliesst, sich mit seiner Familie im Engadin niederzulassen. Er übersiedelt nach Maloja, wo er sich im Chalet Kuoni einmietet. Beginn des ­Austausches mit den Wiener Secessionisten, die in Segantini einen ­Wegbereiter sehen.

1896

Segantini verbringt jeweils die Wintermonate mit seiner Familie in ­einem Hotel in Soglio im Bergell. Im März wird ihm in der Ausstellung der Münchener Secession ein ganzer Saal zur Verfügung gestellt.

1898

Giovanni Segantini

1896/97

Segantini plant ein Engadiner Panorama für die Pariser Weltausstellung von 1900 und nimmt die Arbeit daran auf. Das Projekt scheitert an den enorm hohen Kosten für das geplante Panoramabild und den ­zugehörigen monumentalen Pavillon.

1894

Das Haus Segantini mit dem Rundbau in Maloja

1896

Segantini mit seiner Familie und dem Hauslehrer, 1896

1897

Der österreichische Staat finanziert die von William Ritter verfasste Monographie über Leben und Werk Segantinis, mit einer Gestaltung des Einbands von Koloman Moser (1868–1918).

1898

Segantini widmet sich in erster Linie dem Alpentriptychon, das bei seinem Tod unvollendet bleibt. Anlässlich der ersten Ausstellung der Wiener Secession im September ist Segantini ein Saal mit 29 Werken gewidmet. Die Veranstaltung bekräftigt den Triumph des ­Künstlers in Wien. Die Secession erwirbt das Gemälde «Le cattive madri» (Die bösen Mütter).

1899

Im Februar wird Segantini auf der Jahresausstellung der Société des Beaux­ Arts in Brüssel ein Saal gewidmet. Im September begibt sich der Künstler auf den Schafberg (2700 m ü. M.), um an diesem Zufluchts­ort am Mittelbild «La natura» (Natur) des Alpentriptychons zu arbeiten. Am 18. September erleidet er eine akute Bauchfellent­zündung. Es gibt noch keine Antibiotika, die man einsetzen könnte. Segantini stirbt am 28. September auf dem Schafberg im Beisein seines Freundes und Arztes Oskar Bernhard (1861–1939), seines Sohnes Mario und ­seiner Lebens­gefährtin Bice. Am 26. November wird die Gedächtnis­ausstellung für Giovanni Segantini in Mailand eröffnet.

1900

Vom 15. April bis zum 15. Oktober ist das Schaffen Segantinis auf der Pariser Weltausstellung im Grand Palais mit sechs Ölbildern und zehn Zeichnungen vertreten. Das Alpentriptychon wird im italienischen Pavillon vorgestellt.

1840–1917

IX. Kunstausstellung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs, Secession, Wien, 1901, mit Werken von Segantini und Auguste Rodin (1840–1917).

Otto Fischbacher

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[R4] Otto Fischbacher im Alpstein zwischen Hohen Kasten
und Stauberen, 1927;
im Hintergrund: Sämtisersee, Altmann und Säntis

Unter den bedeutenden Schweizer Sammlern nimmt Otto Fischbacher (1874 – 1953) eine Sonderstellung ein. Er besass zwar auch Landschaften von Auguste Renoir und Edouard Manet, sein Hauptinteresse jedoch galt einem einzigen Maler: Giovanni Segantini. Diese Konzentration, verbunden mit höchstem Qualitätsanspruch und rigoroser Auswahl, ist aussergewöhnlich und stellt eine der herausragenden Schweizer Sammlerleistungen dar. Mit neun Gemälden und drei Zeichnungen, die er zwischen 1920 und 1950 erwarb, trug Otto Fischbacher eine Werkgruppe zusammen, die das Schaffen von Segantini – mit Schwerpunkt auf der Savogniner Periode (1886–1894) – umfassend darzustellen vermag. Einem Wunsch des Sammlers folgend, wurde 1978 die Otto Fischbacher Giovanni Segantini Stiftung von seinen direkten Nachkommen errichtet.

Otto Fischbachers Beziehung zu Giovanni Segantini war zweifellos eng. Es war die Begeisterung für die Bergwelt, die Faszination des Alpinen, die ihm Segantinis Werke eigenem Erleben nahe erscheinen liessen. Er selbst war ein passionierter Alpinist und Bergfotograf, und als Mitglied des Schweizerischen Alpenclubs ermöglichte er den Bau der Grialetschhütte (2542 m ü. M., nahe des Flüelapasses). Mit dem Zermatter Bergführer Gabriel Zumtaugwald war Otto Fischbacher manchen Sommer im Berner Oberland und im Engadin unterwegs. Er bestieg fünfmal das Matterhorn sowie die höchsten Gipfel in Graubünden. Gemeinsam mit seiner Tochter Margrit unternahm er bereits in den Dreissigerjahren ausgedehnte Reisen nach Nordafrika, Indonesien, Indien und Hinterindien, die er in Fotoalben und Reisetagebüchern dokumentierte. Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr verbrachte die Familie üblicherweise in St.Moritz, wo Otto Fischbacher zweifellos auch das 1908 eröffnete Segantini Museum besuchte.

[R5] Otto Fischbacher und seine Tochter Margrit Sautter- Fischbacher, nach der Rückkehr von ihrer Indienreise im April 1932
[R7] Otto Fischbacher nach der Rückkehr von der Indienreise im April 1932

Verbindungen zum St.Moritzer Arzt Oskar Bernhard (1861–1939) und zu Gottardo Segantini (1882–1974) vertieften das Verständnis für das Werk Giovanni Segantinis. Gottardo schreibt in einer undatierten handschriftlichen Notiz: «Wenn ich nicht wüsste, dass Otto Fischbacher wie ein perfekter Künstler seine Motive auszusuchen versteht, was er so augenscheinlich in seinen farbigen Landschaftsaufnahmen beweist, dann würde ich meinen müssen, dass er ein geschmackvoller Sammler sei. Nicht jeder geborene Künstler begeht den Fehler, mit Farbe und Zeichnung seine Begabungen zu offenbaren, und das ist gut so, denn zu viele schon gehen den dornenvollen Weg der Kunst, die anderswo sich und den Mitmenschen besser dienen würden. Mein lieber Freund Otto Fischbacher hat mit Glück und sicherer Hand sich und seinem Vaterland viele schöne Werke gesichert, die sonst in aller Welt zerstreut, unseren Augen entzogen worden wären, darum sage ich als Sohn Giovanni Segantinis und als Schweizerbürger ihm meinen besten Dank. Wer die Natur wie Otto Fischbacher liebt und Kunst, muss zu Giovanni Segantini als Verherrlicher ihrer Schönheit Zuflucht suchen und Freude haben auch an allem wahrhaft Schönen, das die Künstler aller Zeiten zu unserem inneren Reichtum und unserer Glückseligkeit geschaffen haben.»

Philippe Rahm

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Philippe Rahm (*1967 Pully) ist als Künstler und Architekt bekannt für wegweisende Arbeiten an der Schnittstelle von Klima, Architektur und Raum. Sein Schaffen hat den Bereich der Architektur vom ­physiologischen Massstab des Körpers bis zur klimatischen Skala der Stadt erweitert und im Kontext der Nachhaltigkeit ein internationales Publikum erreicht.

Im Zusammenhang mit der Beschleunigung des Klima­wandels ­argumentiert Rahm, dass Eigenschaften wie Effusivität, Emissionsvermögen, Leitfähigkeit und Reflexionsgrad die Entscheidungen ­leiten sollten. Die dramatische Entwicklung regte den Künstler dazu an, den Begriff Anthropocene Style (Anthropozäner Stil) zu prägen, der für die Ästhetik und Kunst der Umwelt-Ära spezifisch sein wird.

Für die Ausstellung «La Luce Alpina» im Kunstmuseum St.Gallen realisiert Philippe Rahm ein Projekt, das speziell für einen Raum konzipiert wurde. Er beginnt mit einer Untersuchung der Lichtintensität in ­verschiedenen Höhenlagen. Je höher ein Ort liegt, desto weniger ­blockiert die Atmosphäre die einstrahlenden Lichtfrequenzen. Je ­höher man den Berg erklimmt, desto blauer wird das Licht. Rahm gibt dem Museumsraum eine Intensität und Wellenlänge des Lichts, ­welche der Höhenlage entspricht, in der Segantini seine ­Bilder ­malte. St.Gallen auf 669 m ü. M. erhält einen Raum, der das strahlende und kalte Licht des Berges hat, intensiver und blauer als das in ­­­St.­Moritz auf einer Höhe von 1822 m ü. M.

Not Vital

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Mit den fünf Bergen, den Tschinch Muntognas, ist in der Ausstellung eine geschlossene Werkgruppe von Not Vital (*1948 Sent) präsent, die 2001 aus Drahtgeflecht und Gips entstand. Jene fünf Engadiner Monumente, die ihm seit der Kindheit in Sent im Unterengadin ­täglich vor Augen waren: Piz S-chalambert, Piz Ajüz, Piz Lischana, Piz S. Jon, Piz Pisoc.

Die Mythen dieser Landschaft und die Beziehung des eigenen Körpers zu ihr ist Quelle seines Schaffens seit den Anfängen als Konzeptkünstler in den späten Sechzigerjahren. Inzwischen ist ein hoch­komplexes und vielfach verzweigtes Œuvre entstanden, das persönliches Erleben mit globalen Chiffren des Menschseins verbindet.

Not Vital ist ein beständig Reisender. Er sucht das Übergreifende, Verbindende zwischen den Kulturen. Die erlebte ewige Dauer der heimatlichen Berge bildet gleichsam einen Angelpunkt in seinem Schaffen. Durch ihre plastische Form werden die fünf Berge zu ­autonomen Skulpturen, obwohl sie in ihrem fragilen Material ursprünglich nur als Modelle für eine Umsetzung in weissem Marmor gedacht waren. Die kanonische Ansicht der Berge, wie sie sich vom Fenster des Senter Ateliers aus bietet, transformiert sich, indem man diese Berge als Betrachtende umschreiten und sie ganz ­anders erfassen kann als sie real im Grenzgebiet zwischen Engadin und ­Südtirol stehen.

Index

Editorial

In der Publikation zur «La Luce Alpina» Ausstellung haben wir uns mit der Thematik der digitalen Archivierung von physischen, zeitlich begrenzten Aktionen auseinander gesetzt. Der digitale Ausstellungskatalog soll als Recherchewerk dienen, das auch über die Ausstellungsdauer hinaus die Inhalte zugänglich macht und den Dialog anregt.

Die Webseite funktioniert als digitales Kunstbuch. Sie erlaubt ein intuitives Stöbern als auch eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Werken dank der Textebene von Lorenzo Benetti und Roland Wäspe. Durch die neuartige Medialität in Form einer digitalen Publikation, erhalten die Werke eine neue Dimension. Die Textinhalte sind direkt mit der Betrachtung der Kunstwerke verknüpft und schaffen so Zugänge, die einen Mehrwert für Leser*innen darstellen.

Nayla, Louis und Fabio

Publikation zur Ausstellung
La Luce Alpina
Konzeption

Urgent and Moving Editions
Nayla Baumgartner, Fabio Menet, Louis Vaucher


Gestaltung

Data-Orbit, Studio für visuelle Kommunikation


Programmierung

Felix Niklas


Schriften

Prectice, Francois Rappo (Optimo)
Organigramm, Fabio Menet (Data-Orbit)


Herzlichen Dank für die Unterstützung

An dieser Stelle möchten wir uns herzlich für die Unterstützung vom Kunstmuseum St.Gallen mit Gloria Weiss und Daniela Mittelholzer bedanken, die uns das Material zur Verfügung stellten und uns mit Rat und Tat zur Seite standen. Wir danken Jonas Vögeli und Matthias Michel für das gestalterische sowie editorielle Feedback und Felix Niklas für den grossartigen Webcode.


Kunstmuseum St.Gallen
28.9 bis 1.12.2019
© 2021 Kunstmuseum St.Gallen

Museumstrasse 32
CH-9000 St.Gallen
+41 71 242 06 71
info@kunstmuseumsg.ch
kunstmuseumsg.ch


Texte

Roland Wäspe,
Lorenzo Benedetti


Lektorat

Matthias Wohlgemuth,
Elfgard Sedleger


Fotografien Kunstmuseum

Stefan Rohner


Pressearbeit

Sophie Lichtenstern


Technischer Aufbau

Urs Burger, Thomas Kolter Herbert Weber, Hugo Borner, Felix Boekamp


Kunstvermittlung

Daniela Mittelholzer, Claudia Hürlimann,Sabrina Thöny, Annina Thomann


Dank für die Unterstützung der Ausstellung

Mit grosszügiger Unterstützung von Stadt und Kanton St.Gallen
Ortsbürgergemeinde St.Gallen
Kunstverein St.Gallen
Otto Fischbacher Giovanni Segantini Stiftung
Helvetia Versicherungen Sonja und Michel Langenstein, St.Gallen
Senn Resources
Vontobel Bank AG
Zumtobel Lighting

Förderbeiträge für die Ausstellung im Kunstmuseum
Text
Verzeichnis